Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Gül: Wulff und Merkel müssen Repression gegen Journalisten zum Thema machen

Aus Anlass des bevorstehenden Besuchs des türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül in Deutschland lenkt Reporter ohne Grenzen (ROG) die Aufmerksamkeit auf die Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei. Während seiner Reise vom 18. bis 21. September 2011 wird Gül mit Bundespräsident Christian Wulff und Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammentreffen. Der Besuch fällt mit dem 200. Tag der Inhaftierung der beiden bekannten türkischen Enthüllungsjournalisten Ahmet Sik und Nedem Sener am 19. September zusammen.

 

"Massenhafte Strafverfahren gegen Journalisten sind Zeichen für ein zunehmend pressefeindliches Klima bei Behörden und Justiz", sagt ROG-Vorstandssprecher Michael Rediske. 63 Journalisten sind derzeit nach Informationen von ROG im Gefängnis. Viele von ihnen müssen monate- oder sogar jahrelang in Untersuchungshaft ohne Anklage ausharren. Schuld an diesem Skandal sind vor allem die fehlenden gesetzlichen Garantien für Presse- und Meinungsfreiheit sowie willkürliche Anklagen und Gerichtsentscheide zuungunsten von Medienvertretern.

 

"Wir appellieren an Bundespräsident Wulff und Bundeskanzlerin Merkel, bei ihrem Treffen mit Staatspräsident Gül die Repression gegen die Medien anzusprechen und sich für die Freilassung von Sik und Sener sowie ihrer Kollegen einzusetzen, die offensichtlich wegen ihrer Recherchen und Publikationen inhaftiert wurden", sagt Rediske. Die hohe Zahl der Strafverfahren gegen Pressevertreter schürten ein Klima der Einschüchterung und Selbstzensur.

 

Schätzungen zufolge wird derzeit gegen mehrere hundert oder gar tausend Journalisten in der Türkei ermittelt. Zahlen zu Ermittlungs- und Strafverfahren sowie zu Verhaftungen von Reportern gibt die türkische Justiz nicht bekannt. Viele Fälle werden als "geheim" eingestuft, so dass selbst Anwälte von betroffenen Pressevertretern keine Einsicht in die Anklageschriften haben. Im Fall von Sik und Sener zögerten die Justizbehörden den Prozessbeginn mehrfach heraus. Beide sind seit dem 3. März 2011 im Gefängnis. Erst am 9. September hat die 16. Kammer des Istanbuler Schwurgerichts die Anklageschrift angenommen. Die erste Anhörung im Prozess soll am 22. November stattfinden.

 

Sik, Mitarbeiter der Zeitung "Radikal" und Sener, Journalist bei dem Blatt "Miliyet", wird vorgeworfen, das ultranationalistische Netzwerk Ergenekon zu unterstützen und an Putschplänen gegen die Regierung unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan beteiligt gewesen zu sein. ROG setzt sich gemeinsam mit anderen Nichtregierungsorganisationen und vielen türkischen Journalisten für die Freilassung der beiden Journalisten ein. "Die Vorwürfe sind absurd, die monatelange Untersuchungshaft ist nicht zu rechtfertigen", sagt Rediske.

 

Sik hatte mit seinen Veröffentlichungen auf eine mögliche Ergenekon-Verschwörung erst hingewiesen. Bei seiner Verhaftung stand er vor der Veröffentlichung eines Buches über die mutmaßliche Unterwanderung der türkischen Polizei durch die islamistische Gülen-Bewegung. Sener beschäftigte sich unter anderem intensiv mit dem Attentat gegen den armenischen Journalisten und Menschenrechtler Hrant Dink.

 

Wie Sik und Sener werden viele Journalisten wegen angeblicher Verbindungen zu Terrororganisationen oder wegen Propaganda für eine terroristische Organisation verfolgt. ROG fordert seit langem eine Revision des Anti-Terrorismusgesetzes, das unter anderem der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) widerspricht. Eine Reihe weiterer weit gefasster Gesetze tragen zu einer willkürlichen und medienfeindlichen Rechtsprechung bei.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0