Es gibt verschiedene Player_innen in der Schweizer Polizeipolitik: Neben der umtriebigen Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektor_innen (KKJPD), der Konferenz
der Kantonalen Polizeikommandant_innen (KKPK) und den jeweiligen städtischen Polizeidirektor_innen sind dies vor allem die Polizeigewerkschaften. Eine davon – neben dem Verband
Schweizerischer Polizeibeamter (VSPB) - ist der Polizeiverband Bern-Kanton (PVBK) und ihr Präsident, der SP-Grossrat Markus Meyer.
Seit ein paar Jahren ist innerhalb der PVBK die Reitschule ein Dauerthema, der Vorstand hat sogar eine „Arbeitsgruppe Reitschule“ in’s Leben gerufen. Gab es in den ersten 10
Jahren der Reitschule kaum direkte Konfrontationen mit der Polizei, änderte sich dies, als sich Ende der Neunziger Jahre Teile der Dealer_innen-Szene aufgrund der repressiven
staatlichen Drogenpolitik vor die Reitschule und auf den Schützenmatte-Parking verlagerte. Dadurch nahmen auch die Polizeieinsätze vor der Reitschule zu – allen voran die der
Anti-Drogen-Grenadiereinheit „Krokus“. Deren als exzessiv ausgelebt empfundenes Racial Profiling, das als brutal erlebte Vorgehen der Polizei nicht nur gegen Dealer_innen und die
kritikunfähige Polizeiführung führten in den letzten 17 Jahren immer wieder zu verbalen und körperlichen Zusammenstössen mit Reitschule-Arbeitenden und –Gästen. Daneben gab es in
den letzten Jahren unregelmässig - und viel weniger als mensch angesichts der Mediendauerpräsenz meinen könnte - aus diesen oder anderen, ganz unterschiedlichen Motiven vor allem
an Wochenenden Angriffe auf vorbeifahrende Polizeifahrzeuge, Brandbarrikaden und kleineren und grösseren Strassenschlachten. Und die entsprechenden Medienschlagzeilen und
Vorstösse im Berner Stadtparlament, die der Reitschule die Schuld anlasten und ihr einen repressiven Kurs und die Rolle als Hilfssheriff aufzwingen wollten, anstatt die Motive für
die Gewalt gegen die Polizei oder die repressive Drogenpolitik und die Polizeipraxis an sich zu hinterfragen.
Polizeigewerkschaft macht Politik
Interne Kritik wird in der Berner Kantonspolizei meist nur anonym geäussert, höchstselten auch mal namentlich in der Zeitung. Auch die Polizeigewerkschaft PVBK wird nur dann
„kritisch“, wenn es um die Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder geht. So bildeten ein paar Hundert Polizist_innen an der Protest-Demo gegen die rigiden kantonalen Sparmassnahmen
einen veritablen Blauen Block samt Transparent mit der Aufschrift „Jetzt längt’s – trop c’est trop!“. Bei ihrem Lobbying für bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen und mehr
Personalbestand bemühen sie gerne auch mal in einem Offenen Brief an den Grossen Rat den verschollenen Umweltaktivisten Bruno Manser („Wer begriffen hat und nicht handelt, der hat
nicht begriffen!“). Kein Wunder bei 549'000 Überstunden allein im Jahr 2012 (SoZe 02.06.2013).
Doch eben nicht nur um die eigenen gewerkschaftlichen Belange kümmert sich der VPBK seit seiner Gründung im Jahre 1900. Mit Lobbying wird im Zusammenhang mit der Causa Reitschule
auch Druck auf die städtische und kantonale Politik gemacht. Und so kommt es zu Krisensitzungen und ausschweifenden Zeitungsartikeln, wo neben Politiker_innen jeglicher Couleur,
auch der städtische Polizeidirektor Reto Nause, der kantonalbernische Polizeidirektor und KKJPD-Präsident Hans-Jürg Käser und PVBK-Präsident Markus Meyer ihre immer repressiveren
Lösungsansätze gegen die Gewalt an Polizist_innen darlegen. In der Regel sind denn auch die medialen Debatten um einiges heftiger als die eigentlichen Ausschreitungen.
Dass dieses Vorgehen nicht von ungefähr kommt, liegt auf der Hand. Polizei macht (erfolgreich) Politik. Vor allem die KKJPD hat in den letzten Jahren demonstriert, dass die
Polizei bzw die organisierten Polizei- und Justizdirektor_innen der Schweiz ihren Sicherheitsdiskurs (Hooligan-Konkordat, Asyl, Häftlinge outsourcen etc.) aufzwingen kann.
Ungewöhnlich ist einzig, dass dies nun auch bei einem rein städtischen Themen wie der Reitschule oder dem TanzDichFrei versucht wird.
Schiess Dich Frei gegen die Flasche des Anstosses
Nachdem es Mitte Dezember 2013 an einem Wochenende vor der Reitschule bzw. auf der Schützenmatte wieder mal zu Ausschreitungen kam, meldete sich in „Der Bund“ auch PVBK-Präsident
Meyer zu Wort, der sich wie schon öfters zuvor, über die prekären Arbeitsbedingungen der Polizei rund um die Reitschule beschwerte. Im Bund-Artikel wurde dabei auch aus einem
Statement von Kapo-Botschaftsschützer Hans-Rudolf Gerber, Mitglieds der PVBK-internen „Arbeitsgruppe Reitschule“ zitiert, welches einen Monat zuvor im PVBK-Blatt „Dreieck“
abgedruckt worden war:
„Folgendes gibt mir zu denken: Einen Flaschenwurf gegen ein vorbeifahrendes Polizeiauto geht in den Bereich der „versuchten schweren Körperverletzung“; ohne das Polizeiauto als
Schutzschild sogar unter „Tötungsversuch“. Wenn ich mir vorstelle, mit was für Wurfgeschossen wir an Demos wie „Tanz Dich Frei“ eingedeckt werden, wird es mir schon etwas mulmig,
wenn ich an die „Notwehr“ und den Einsatz der Dienstwaffe denke. „
(Dreieck 3/2013)
Nicht nur ihm wurde dabei mulmig. Denn genauso ging es in den Jahren zuvor auch schon diversen Reitschule-Aktivist_innen und -Gästen, wenn vor der Reitschule – zum Glück selten -
der Schusswaffengebrauch angedroht oder Polizeipistolen gezogen wurden. So zum Beispiel an einem gemütlichen Donnerstag Abend Ende Mai 2012, als ein Polizist nach einer
gescheiterten Verfolgungsjagd gegen „Mutmassliche Schwarze“ quer über den Reitschule-Vorplatz mit Buh-Rufen und dem nicht gerade bedrohlichen Klirren von kaputten Flaschen
empfangen wurde - einzig eine fand per Zufall das Ziel, der Beamte konnte sie aber abwehren. Doch anstatt sich zu beschweren, sich zurückzuziehen oder den Pfefferspray bereit zu
halten, zog er seine Dienstwaffe, lud sie durch und zielte aus etwa 10m Distanz 20 Sekunden lang auf die etwa 150 geschockten Gäste, die nach einem Baby Jail-Konzert im Dachstock
den Vorplatz belebten. Keine Notwehr, sondern reine Einschüchterungsaktion und Machtdemonstration. Während dieser Fall relativ gut durch Copwatch Reitschule dokumentiert ist, gibt
es einige wenige Fälle von gezückten (oder noch schlimmer, „verlorenen“) Polizeiwaffen, die wohl nie öffentlich gemacht werden.
Drohung per Morgenpost
Dass Polizeigewerkschaften manchmal einen exzessiven Hang zur Übertreibung und Gewaltandrohungen gegen Feindbilder (Dealer_innen, Flüchtlinge, Autonome etc.) zeigt das Beispiel
Hamburg. Nach den von Polizeihardlinern eskalierten Ausschreitungen an der Rote Flora/Lampedusa/Esso-Häuser-Demo vom 21. Dezember und dem wie sich im Nachhinein herausstellte
erfundenen Angriff auf den Polizeiposten „Davidwache“ vom 28.12. drohten Hamburger Polizeikreise auf dem Titelbild der Boulevard-Zeitung Morgenpost: „Vermummte Polizei warnt: Wir
schiessen nächstes Mal scharf!“. Einige Tage später – ob es mit den Geschehnissen in Hamburg einen Zusammenhang hatte, ist unklar- schoss dann tatsächlich ein Leipziger Polizist
in angeblicher Notwehr auf einen Angreifer, der zuvor Flaschen auf einen Polizeiposten geworfen haben soll und verletzte ihn an Schulter und Bein.
In Hamburg waren vor allem die Gewerkschaft der Polizei (GdP) und die Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) die Kräfte, die die Stimmung mitanheizten, während die
Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten die Eskalationspolitik von Polizeiführung, -gewerkschaften und Politik scharf und fundiert kritisierte.
La Haine lässt grüssen
Doch wie die Befürchtung/Androhung des Schusswaffengebrauchs durch die „AG Reitschule“ der Berner Polizeigewerkschaft PVBK zu werten ist, ist unklar. War es einfach (ein weiterer)
unsensibler Fauxpas eines ausgebrannten Polizeikaders? Der Basis Härte zeigen, statt die eigene Einfallslosigkeit zuzugeben? Eine weitere Dramatisierung, um die Politik unter
Druck zu setzen? Oder doch die Vorbereitung der Öffentlichkeit auf „Notwehr“-Schüsse vor der Reitschule und an Demos?
So oder so. Mensch muss nicht „La Haine“ gesehen haben, um sich ausmalen zu können, was in Bern passieren würde, wenn diese Rote Linie – sprich Verletzte oder Tote durch eine
Polizeiwaffe – überschritten würde. Schon nur das Ziehen der Dienstwaffe ist hochriskant: Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn am erwähnten Abend Ende Mai 2012 nicht
friedliche Baby Jail-Konzertgänger_innen, sondern erhitzte Drum’n’Bass-Jugendliche vor Ort gewesen wären: Verletzte, Tote und/oder eine Dienstwaffe in Nicht-Diensthänden...
Weiter ist wohl zu befürchten, dass die Polizeibehörden in einem solchen Fall ihre Beamt_innen in gewohnter Manier vorbehaltlos unterstützen würden – ähnlich wie das bisher in
anderen Fällen von Polizeiübergriffen und Polizeibrutalität der Fall war. Und nicht nur im Zusammenhang der Reitschule wurde in den letzten Jahren seitens des Polizeikommandos und
ihrer Medienstelle verharmlost, schöngeredet, unter- oder übertrieben, abgestritten, dazugedichtet, dramatisiert und wenn’s gar nicht mehr ging auch mal brandschwarz gelogen. Mit
diesem Wissen um (fast) bedingungslosen Support seitens der Polizeiführung im Hinterkopf könnte bei dem einen oder der anderen Polizeibeamt_in die Waffe durchaus locker sitzen.
Zwar ist es momentan auf der Strasse wie auch in den Medien ruhig um und vor der Reitschule und an Demos. Aber dennoch wär es höchste Zeit, dass die besonneren Kräfte innerhalb
der Berner Kantonspolizei und der Polizeigewerkschaft mit potentiell schiessfreudigen Kolleg_innen ein ernstes Wörtchen reden.
„Bis hierher lief's noch ganz gut, bis hierher lief's noch ganz gut, bis hierher lief's noch ganz gut...“
(La Haine)
Stattpolizei Bern
(Quelle: Indymedia)
- http://www.derbund.ch/bern/stadt/Reitschule-Polizisten-befuerchten-Eskalation/story/28575086
- http://www.pvbk.ch/images/content/dreieckd/2013/Dreieck3_2013_END_small.pdf (S. 6)
- http://datenjournalist.de/die-presse-im-gefahrengebiet/
- http://www.reitschule.ch/reitschule/mediengruppe/Copwatch/
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